1 Albanien Вто 06 Дек 2011, 5:18 pm
Келиметул-Хакк
Талиб
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Albanien
Grillparty für einen Heiligen
Reportage | 05. Dezember 2011 18:11
Bektaschis und Nichtbektaschis pilgern jedes Jahr im August zu der Türbe, dem Mausoleum von Abaz Aliu, auf den Gipfel des Berges Tomorr auf 2400 Meter Höhe und legen Geld und Handtücher auf das Grab. Foto: Rudi Froese
Schlachtplatz auf dem Berg. Manche Pilger malen sich mit dem Blut der Schafe rote Punkte auf die Stirn. Es wird tagelang gegrillt. Foto: Rudi Froese
Jedes Jahr feiern tausende Albaner einige Tage lang auf dem Berg Tomorr den Flaggenträger bei der Schlacht von Kerbela - Sie besuchen das Grab von Abaz Aliu und schlachten viele Schafe
Der Tiger auf Egins Brust scheint sein Maul aufzureissen, wenn der Pickup Gas gibt, sosehr wird Egin auf der Ladefläche hin- und hergeschüttelt. Egin ist auf Pilgerfahrt: Das T-Shirt bis über die Brust hochgekrempelt, das Tiger-Tatoo darunter, viel Staub im Gesicht, die Sonnenbrille tropfenförmig. Hunderte Autos rütteln sich über die spitzen semmelgelben Steine hinauf, die Straße in das Bergmassiv hinein, in Richtung des Grabmahls von Abaz Aliu, wie die Albaner Abas Ali nennen, den Flaggenträger in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 als sich Sunniten und Schiiten entzweiten, den Mann, der für Treue und Opferbereitschaft steht, den schönen Reiter. Tausende Albaner begeben sich jedes Jahr Ende August auf den Berg Tomorr, der so mächtig und breit über Albanien thront, dass man auf seinen Schultern sogar das Glitzern des Meers und die Größe des albanischen Himmels erfassen kann.
Aus dem CD-Player rappt 50 Cent. Egin hört gerne Gangsta-Rapp, weil 50 Cent ihn von seiner Zukunftsangst ablenkt. Nach Griechenland kann Egin nicht zurück, sowie tausende andere Albaner nicht, weil es dort keine Arbeit mehr gibt. Und so ist der 28-Jährige zum Fest der Bektaschi gekommen. Die Bektaschi sind die vierte Religionsgemeinschaft in Albanien, neben den Muslimen, den Katholiken und den Orthodoxen. Egin ist zwar Katholik, aber das ist ihm egal und den Bektaschi sowieso. Anders als für sunnitische Muslime zählt für die Bektaschi auch nicht, wie oft man oder ob man in Richtung Mekka betet. Frauen und Männer sind in den Ritualen gleichgestellt. Deshalb war der Derwischorden früher auch verrufen. Als Bektaschi darfst Du außerdem Raki trinken, in manchen Klöstern wird er sogar hergestellt. Und der Ramadan ist nur was für Eifrige. Pflichten und Formalitäten sind für die Sufis ohnehin nicht zentral. "Du hast ja nur deine eigene Seele. Und dich selbst oder Gott kannst Du ja ohnehin nicht anlügen", pflegte der Derwisch der Derwische, Dede Baba Rexhet Bardi zu sagen, bevor er heuer im Frühjahr starb. Für die Derwische geht es um die Vereinigung mit Gott, nicht um die Scharia.
Derwisch-Gesänge
Heuer sind auf dem Bektaschi-Fest überall weiße Plastikanhänger mit dem Abbild des verstorbenen Dede Babas zu kaufen. Der Mann mit dem dünnen langen Bart und den hellblauen Augen hatte den Orden 1991 nach dem Ende des Kommunismus wieder aufgebaut. Während der Diktatur in dem weltweit einzigen atheistischen Staat Albanien wurden religiöse Menschen verfolgt, gefoltert und ermordet. Wenn der alte Dede Baba auf dem Berg Tomorr in seinem weißen langen Kleid, mit der kunstvoll bestickten grünen Scherpe, mit seinem zarten Stimmchen in den Nachthimmel sang, dann hielten die Leute ihre Handys in die Höhe, um die Derwisch-Gesänge aufzufangen. Für die Bektaschi ist die Poesie wichtiger als der Koran.
Seit heuer residiert sein Nachfolger Dede Baba Edmond Ibrahimi auf dem Berg Tomorr in dem 1916 erbauten Ordenshaus, der Tekke. Baba Mondi redet nicht so gern über Gott als großen Schöpfer, sondern eher darüber, wie er in den nächsten Jahren den Orden ausbauen will. Überhaupt ist der neue Dede Baba strenger, abgesehen davon, dass seine Homophobie so überhaupt nicht zu dem liberalen Image der Bektaschi passt, wie es vor allem westliche Besucher lieben.
Cevapi, Bier und Raki
50 Cent hat plötzlich aufgehört zu singen. Auch der Blinker des Pickup geht nicht mehr. Die graublauen Schieferplatten links und rechts vom Weg schimmern in der gleichen Farbe wie die Disteln in dem milchigen Sommerlicht. Der Fahrer macht die Motorhaube auf und knotet Drähte ineinander. Dann singt 50 Cent wieder. "Hier ist das erste Wunder", sagt Egin und zeigt auf eine Kapelle am Wegrand. "Hier ist Abaz Aliu mit seinem weißen Pferd gelandet." In der Kapelle ist ein Abdruck von einem Huf zu sehen, in den irgendjemand Geld hineingelegt hat. Die Bektaschi glauben, dass Abaz Aliu, der im Jahr 680 am Euphrat kämpfte, auf dem Gipfel des Tomorr begraben liegt.
Darunter auf der Hochebene, auf den Sommerwiesen wurden Zelte, "Cafés" mit Plastiksesseln, Bars in Campingwagen aufgebaut. Hier lagern Feuerwehrleute, Schlächter, Taxifahrer, Mädchen in kurzen Jeansröcken, Roma-Frauen mit superlangen Zöpfen und Kindern auf den Schultern, deutschsprechende Albaner aus der Diaspora, zugekiffte Geschäftsleute aus Berat, Devotionalienhändler, die hier ein Jahresgehalt verdienen. Die Generatoren surren wie nimmermüde Hummeln. Cevapi, Brot, Bier und Raki. Der Renner sind heuer die Plüsch-Schafe. Es ist ein Fest des Schafes.
Tausende Schafe
Tausende Tiere stehen in Gruppen zusammengepfercht am Berghang. Die Schlächter haben blutige Hosen, sie tragen lässig ihre Fleischhaken in der Hand und lassen ihre Messer aus den Gürteln an den Lenden blitzen. "Ein Schaf vielleicht?", fragt einer in einem Michigan-T-Shirt und mit Cowboy-Hut. Hat man ein Tier auserwählt, werden die Beine verschnürt und es landet auf einer der Eisenstangen. Nach dem Ritual, wird es verkehrt herum aufgehängt, das Fell heruntergezogen, dann sieht es aus als wäre es ein doppeltes Schaf: Fleisch und Fell. Der Schlachtplatz liegt direkt unter den Gräbern der Derwische.
Auf den Mauern um die Gräber stehen rosa, gelbe, lila Plastikrosen. Hier ein Täubchen aus Gips. Die Pilger haben Handtücher auf die Gräber gelegt, um sie mit Derwischenergie aufzuladen. Sie berühren den Turban aus Stein auf dem Grab, mit dem Mund, mit der Stirn, mit dem Mund mit der Stirn, legen Geld auf das Grab und entfernen sich wie Krebse rückwärts, das Gesicht immer dem toten Derwisch zugewandt. Manche haben sich mit Blut ein rotes Mal auf die Stirn gemalt. "Wir sind wie Inder", lacht Aldo, der mit seiner Frau Eriona hierher gekommen ist. Er ist Muslim, sie ist Bektaschi. Völlig normal in Albanien.
Bündelweise Kerzen
Im Orden der Bektaschi sind Elemente aus dem Buddhismus, aus dem Christentum, aber auch aus der Kabbala zu finden. Zentral ist aber, dass in schiitischer Tradition Imam Ali, der Cousin des Propheten Mohammed, der auch Mohammeds Tochter Fatima heiratete, verehrt wird. Die Bektaschi, die im 16. Jahrhundert im Nahen Osten zu einem Orden wurden, waren immer wieder in Konflikt mit den sunnitischen Osmanen. Seit damals viele "Häretiker" von Anatolien in die Provinz deportiert wurden, gibt es eine schiitische Präsenz auf dem Balkan.
"Abaz Aliu 7 km", steht auf dem Schild, das zum Gipfel weist. Die Taxifahrer haben sich Fixpreise für den Heiligenbesuch ausgedealt. Aber wegen der Wirtschaftskrise kommt es dennoch zu Preisdumping. Am Gipfel im Mausoleum steht ein weißer Sarkophag. An den Wänden hängen Bilder von Imamen, in den Fensterecken liegt Babywäsche, die mit "Abaz Aliu Energie" aufgeladen werden soll. Das Lehrerehepaar Aldo und Eriona aus Berat wollen eine Familie gründen. Eriona legt ihr Handy auf das Grab. "Da ist ein Hochzeitsfoto von uns drauf. Das will ich hier auftanken!", erklärt sie. "Spürst Du die Energie?"
Es riecht nach Paraffin. Die Pilger verbrennen bündelweise Kerzen. Vom Mausoleum aus blickt man über weite Teile Albaniens. Abaz Aliu hatte offensichtlich ein Gefühl für Naturschönheiten. Für die pantheistischen Bektaschi ist Gott in jedem Wesen zu finden. Von dem Ordensgründer, dem Wanderemiten Haji Bektash Veli, der im 13. Jahrhundert lebte, wird erzählt, er habe sogar Steine mit Leben erfüllt und sie fliegen lassen können. Deshalb auch der Name: Beg heißt Herrscher und Tas heißt Stein. Im Weltzentrum der Bektaschi in Tirana sind Ölbilder zu sehen, auf denen Haji Bektash Veli Löwen und fliegende Steine befehligt. Daneben hängt ein Bild der "heiligen Familie". Neben Fatima, Abaz Aliu, Hussein und Hassan, den Söhnen von Imam Ali, ist auch der Prophet selbst zu sehen, auch sein Antlitz. Das Gesicht Mohammeds? "Naja, auf dem Bild ist er ja zu sehen, wie er gerade zu Hause in der Familie ist", erklärt der Derwisch, der durch die Räumlichkeiten führt.
Bektaschi-Flaggen
Für manche strenge Muslime sind die Bektaschi Ketzer. Ilir H., 24 Jahre alt, der in Bursa Islamwissenschaften studiert, verheimlicht seinen Lehrern in der Türkei, dass er ein Bektaschi ist. "Die verstehen das nicht, aber das macht nichts", sagt er sanftmütig. "Wir Bektaschi sind sehr tolerant." Die Bektaschi seien wie die Aleviten ein Teil der Zwölfer-Schiiten, die zwölf Imame verehren, erklärt Ilir. Insgesamt gäbe es für einen Bektaschi vier Tore zu zehn Erkenntnisebenen. Zu den Initiationsriten der Bektaschi gehörten spirituelle Geheimnisse, sagt der Theologiestudent.
Von den Hügeln steigt Rauch auf, Schafe werden auf Spießen gedreht. Mädels in glitzernden Schuhen blasen aus Kaugummis apfelgroße Ballons. Weiter hinten am Berghang haben die Leute zu tanzen begonnen. Neben albanischen und Bektaschi-Flaggen flattern auch Fahnen der Demokratischen Partei von Sali Berisha in der Luft. Einige Politiker lassen sich jedes Jahr hierher auf den Berg fliegen, um an der Popularität der Derwische mitzunaschen. Die Mönche in den hübschen Kleidern werden von Pilgern mit Handküssen bestürmt. Wie viele Bektaschi-Anhänger es heute gibt, weiß keiner. Vor dem Kommunismus dürften es 15 Prozent der albanischen Bevölkerung gewesen sein. Politisch relevant sind sie noch immer.
Nationalheld
Unter Ali Pascha von Tepelena (1741 bis 1822), der ziemlich unabhängig von der Hohen Pforte regierte, fungierten die Derwische sogar als politische Agenten. Tepelena wollte den Bektaschismus zur Hauptreligion der Albaner machen, wie der Soziologe Albert Doja schreibt und propagierte albanische Bezeichnungen für den Orden. Er wollte die Albaner von den Türken trennen, eine Allianz gegen die Osmanische Dominanz schmieden und einen eigenen Staat gründen. Die Religion war dabei zweitrangig. Es galt: Ohne Vaterland kein Glaube. Bis heute spielt Religion für die Identitätskonstrukte der Albaner eine untergeordnete Rolle. Der Bektaschismus wurde als nationaler Kitt benutzt. Der Dichter Naim Frasheri setzte in seinem Epos über die Schlacht von Kerbela (Querbelaja) den Kampf der Schiiten gegen die Sunniten mit dem Kampf der Albaner gegen die Osmanen (auch Sunniten) gleich. "Abaz Aliu hat Tomorr eingenommen, er ist gekommen, um mit uns zu leben, Albanien wurde nicht länger nieder geschlagen, weil Gott gekommen ist, um es zu lieben", schrieb Frasheri 1898.
Abaz Aliu wurde damit nicht nur als Freiheitskämpfer gegen die Osmanen im albanischen Nationalnarrativ verankert sondern auch als Mitbegründer der albanischen Nation. "Es ist eine große Ehre, dass Abaz Aliu hierher nach Albanien gekommen ist, er hätte ja auch in jedes andere Land gehen können", hatte der verstorbene Dede Baba erklärt. Abaz Aliu machte Albanien zum auserwählten Land. Und auch für den jungen Bektaschi Ilir H. ist der Flaggenträger vom Euphrat ein Vorreiter geblieben. "Wir Albaner haben eigentlich drei Helden", sagt Ilir und lehnt sich in seinen grünen Plastiksessel. "Mutter Theresa, Abaz Aliu und John Belushi." (Adelheid Wölfl, DER STANDARD; Printausgabe, 6.12.2011)
Albanien
Grillparty für einen Heiligen
Reportage | 05. Dezember 2011 18:11
Bektaschis und Nichtbektaschis pilgern jedes Jahr im August zu der Türbe, dem Mausoleum von Abaz Aliu, auf den Gipfel des Berges Tomorr auf 2400 Meter Höhe und legen Geld und Handtücher auf das Grab. Foto: Rudi Froese
Schlachtplatz auf dem Berg. Manche Pilger malen sich mit dem Blut der Schafe rote Punkte auf die Stirn. Es wird tagelang gegrillt. Foto: Rudi Froese
Jedes Jahr feiern tausende Albaner einige Tage lang auf dem Berg Tomorr den Flaggenträger bei der Schlacht von Kerbela - Sie besuchen das Grab von Abaz Aliu und schlachten viele Schafe
Der Tiger auf Egins Brust scheint sein Maul aufzureissen, wenn der Pickup Gas gibt, sosehr wird Egin auf der Ladefläche hin- und hergeschüttelt. Egin ist auf Pilgerfahrt: Das T-Shirt bis über die Brust hochgekrempelt, das Tiger-Tatoo darunter, viel Staub im Gesicht, die Sonnenbrille tropfenförmig. Hunderte Autos rütteln sich über die spitzen semmelgelben Steine hinauf, die Straße in das Bergmassiv hinein, in Richtung des Grabmahls von Abaz Aliu, wie die Albaner Abas Ali nennen, den Flaggenträger in der Schlacht von Kerbela im Jahr 680 als sich Sunniten und Schiiten entzweiten, den Mann, der für Treue und Opferbereitschaft steht, den schönen Reiter. Tausende Albaner begeben sich jedes Jahr Ende August auf den Berg Tomorr, der so mächtig und breit über Albanien thront, dass man auf seinen Schultern sogar das Glitzern des Meers und die Größe des albanischen Himmels erfassen kann.
Aus dem CD-Player rappt 50 Cent. Egin hört gerne Gangsta-Rapp, weil 50 Cent ihn von seiner Zukunftsangst ablenkt. Nach Griechenland kann Egin nicht zurück, sowie tausende andere Albaner nicht, weil es dort keine Arbeit mehr gibt. Und so ist der 28-Jährige zum Fest der Bektaschi gekommen. Die Bektaschi sind die vierte Religionsgemeinschaft in Albanien, neben den Muslimen, den Katholiken und den Orthodoxen. Egin ist zwar Katholik, aber das ist ihm egal und den Bektaschi sowieso. Anders als für sunnitische Muslime zählt für die Bektaschi auch nicht, wie oft man oder ob man in Richtung Mekka betet. Frauen und Männer sind in den Ritualen gleichgestellt. Deshalb war der Derwischorden früher auch verrufen. Als Bektaschi darfst Du außerdem Raki trinken, in manchen Klöstern wird er sogar hergestellt. Und der Ramadan ist nur was für Eifrige. Pflichten und Formalitäten sind für die Sufis ohnehin nicht zentral. "Du hast ja nur deine eigene Seele. Und dich selbst oder Gott kannst Du ja ohnehin nicht anlügen", pflegte der Derwisch der Derwische, Dede Baba Rexhet Bardi zu sagen, bevor er heuer im Frühjahr starb. Für die Derwische geht es um die Vereinigung mit Gott, nicht um die Scharia.
Derwisch-Gesänge
Heuer sind auf dem Bektaschi-Fest überall weiße Plastikanhänger mit dem Abbild des verstorbenen Dede Babas zu kaufen. Der Mann mit dem dünnen langen Bart und den hellblauen Augen hatte den Orden 1991 nach dem Ende des Kommunismus wieder aufgebaut. Während der Diktatur in dem weltweit einzigen atheistischen Staat Albanien wurden religiöse Menschen verfolgt, gefoltert und ermordet. Wenn der alte Dede Baba auf dem Berg Tomorr in seinem weißen langen Kleid, mit der kunstvoll bestickten grünen Scherpe, mit seinem zarten Stimmchen in den Nachthimmel sang, dann hielten die Leute ihre Handys in die Höhe, um die Derwisch-Gesänge aufzufangen. Für die Bektaschi ist die Poesie wichtiger als der Koran.
Seit heuer residiert sein Nachfolger Dede Baba Edmond Ibrahimi auf dem Berg Tomorr in dem 1916 erbauten Ordenshaus, der Tekke. Baba Mondi redet nicht so gern über Gott als großen Schöpfer, sondern eher darüber, wie er in den nächsten Jahren den Orden ausbauen will. Überhaupt ist der neue Dede Baba strenger, abgesehen davon, dass seine Homophobie so überhaupt nicht zu dem liberalen Image der Bektaschi passt, wie es vor allem westliche Besucher lieben.
Cevapi, Bier und Raki
50 Cent hat plötzlich aufgehört zu singen. Auch der Blinker des Pickup geht nicht mehr. Die graublauen Schieferplatten links und rechts vom Weg schimmern in der gleichen Farbe wie die Disteln in dem milchigen Sommerlicht. Der Fahrer macht die Motorhaube auf und knotet Drähte ineinander. Dann singt 50 Cent wieder. "Hier ist das erste Wunder", sagt Egin und zeigt auf eine Kapelle am Wegrand. "Hier ist Abaz Aliu mit seinem weißen Pferd gelandet." In der Kapelle ist ein Abdruck von einem Huf zu sehen, in den irgendjemand Geld hineingelegt hat. Die Bektaschi glauben, dass Abaz Aliu, der im Jahr 680 am Euphrat kämpfte, auf dem Gipfel des Tomorr begraben liegt.
Darunter auf der Hochebene, auf den Sommerwiesen wurden Zelte, "Cafés" mit Plastiksesseln, Bars in Campingwagen aufgebaut. Hier lagern Feuerwehrleute, Schlächter, Taxifahrer, Mädchen in kurzen Jeansröcken, Roma-Frauen mit superlangen Zöpfen und Kindern auf den Schultern, deutschsprechende Albaner aus der Diaspora, zugekiffte Geschäftsleute aus Berat, Devotionalienhändler, die hier ein Jahresgehalt verdienen. Die Generatoren surren wie nimmermüde Hummeln. Cevapi, Brot, Bier und Raki. Der Renner sind heuer die Plüsch-Schafe. Es ist ein Fest des Schafes.
Tausende Schafe
Tausende Tiere stehen in Gruppen zusammengepfercht am Berghang. Die Schlächter haben blutige Hosen, sie tragen lässig ihre Fleischhaken in der Hand und lassen ihre Messer aus den Gürteln an den Lenden blitzen. "Ein Schaf vielleicht?", fragt einer in einem Michigan-T-Shirt und mit Cowboy-Hut. Hat man ein Tier auserwählt, werden die Beine verschnürt und es landet auf einer der Eisenstangen. Nach dem Ritual, wird es verkehrt herum aufgehängt, das Fell heruntergezogen, dann sieht es aus als wäre es ein doppeltes Schaf: Fleisch und Fell. Der Schlachtplatz liegt direkt unter den Gräbern der Derwische.
Auf den Mauern um die Gräber stehen rosa, gelbe, lila Plastikrosen. Hier ein Täubchen aus Gips. Die Pilger haben Handtücher auf die Gräber gelegt, um sie mit Derwischenergie aufzuladen. Sie berühren den Turban aus Stein auf dem Grab, mit dem Mund, mit der Stirn, mit dem Mund mit der Stirn, legen Geld auf das Grab und entfernen sich wie Krebse rückwärts, das Gesicht immer dem toten Derwisch zugewandt. Manche haben sich mit Blut ein rotes Mal auf die Stirn gemalt. "Wir sind wie Inder", lacht Aldo, der mit seiner Frau Eriona hierher gekommen ist. Er ist Muslim, sie ist Bektaschi. Völlig normal in Albanien.
Bündelweise Kerzen
Im Orden der Bektaschi sind Elemente aus dem Buddhismus, aus dem Christentum, aber auch aus der Kabbala zu finden. Zentral ist aber, dass in schiitischer Tradition Imam Ali, der Cousin des Propheten Mohammed, der auch Mohammeds Tochter Fatima heiratete, verehrt wird. Die Bektaschi, die im 16. Jahrhundert im Nahen Osten zu einem Orden wurden, waren immer wieder in Konflikt mit den sunnitischen Osmanen. Seit damals viele "Häretiker" von Anatolien in die Provinz deportiert wurden, gibt es eine schiitische Präsenz auf dem Balkan.
"Abaz Aliu 7 km", steht auf dem Schild, das zum Gipfel weist. Die Taxifahrer haben sich Fixpreise für den Heiligenbesuch ausgedealt. Aber wegen der Wirtschaftskrise kommt es dennoch zu Preisdumping. Am Gipfel im Mausoleum steht ein weißer Sarkophag. An den Wänden hängen Bilder von Imamen, in den Fensterecken liegt Babywäsche, die mit "Abaz Aliu Energie" aufgeladen werden soll. Das Lehrerehepaar Aldo und Eriona aus Berat wollen eine Familie gründen. Eriona legt ihr Handy auf das Grab. "Da ist ein Hochzeitsfoto von uns drauf. Das will ich hier auftanken!", erklärt sie. "Spürst Du die Energie?"
Es riecht nach Paraffin. Die Pilger verbrennen bündelweise Kerzen. Vom Mausoleum aus blickt man über weite Teile Albaniens. Abaz Aliu hatte offensichtlich ein Gefühl für Naturschönheiten. Für die pantheistischen Bektaschi ist Gott in jedem Wesen zu finden. Von dem Ordensgründer, dem Wanderemiten Haji Bektash Veli, der im 13. Jahrhundert lebte, wird erzählt, er habe sogar Steine mit Leben erfüllt und sie fliegen lassen können. Deshalb auch der Name: Beg heißt Herrscher und Tas heißt Stein. Im Weltzentrum der Bektaschi in Tirana sind Ölbilder zu sehen, auf denen Haji Bektash Veli Löwen und fliegende Steine befehligt. Daneben hängt ein Bild der "heiligen Familie". Neben Fatima, Abaz Aliu, Hussein und Hassan, den Söhnen von Imam Ali, ist auch der Prophet selbst zu sehen, auch sein Antlitz. Das Gesicht Mohammeds? "Naja, auf dem Bild ist er ja zu sehen, wie er gerade zu Hause in der Familie ist", erklärt der Derwisch, der durch die Räumlichkeiten führt.
Bektaschi-Flaggen
Für manche strenge Muslime sind die Bektaschi Ketzer. Ilir H., 24 Jahre alt, der in Bursa Islamwissenschaften studiert, verheimlicht seinen Lehrern in der Türkei, dass er ein Bektaschi ist. "Die verstehen das nicht, aber das macht nichts", sagt er sanftmütig. "Wir Bektaschi sind sehr tolerant." Die Bektaschi seien wie die Aleviten ein Teil der Zwölfer-Schiiten, die zwölf Imame verehren, erklärt Ilir. Insgesamt gäbe es für einen Bektaschi vier Tore zu zehn Erkenntnisebenen. Zu den Initiationsriten der Bektaschi gehörten spirituelle Geheimnisse, sagt der Theologiestudent.
Von den Hügeln steigt Rauch auf, Schafe werden auf Spießen gedreht. Mädels in glitzernden Schuhen blasen aus Kaugummis apfelgroße Ballons. Weiter hinten am Berghang haben die Leute zu tanzen begonnen. Neben albanischen und Bektaschi-Flaggen flattern auch Fahnen der Demokratischen Partei von Sali Berisha in der Luft. Einige Politiker lassen sich jedes Jahr hierher auf den Berg fliegen, um an der Popularität der Derwische mitzunaschen. Die Mönche in den hübschen Kleidern werden von Pilgern mit Handküssen bestürmt. Wie viele Bektaschi-Anhänger es heute gibt, weiß keiner. Vor dem Kommunismus dürften es 15 Prozent der albanischen Bevölkerung gewesen sein. Politisch relevant sind sie noch immer.
Nationalheld
Unter Ali Pascha von Tepelena (1741 bis 1822), der ziemlich unabhängig von der Hohen Pforte regierte, fungierten die Derwische sogar als politische Agenten. Tepelena wollte den Bektaschismus zur Hauptreligion der Albaner machen, wie der Soziologe Albert Doja schreibt und propagierte albanische Bezeichnungen für den Orden. Er wollte die Albaner von den Türken trennen, eine Allianz gegen die Osmanische Dominanz schmieden und einen eigenen Staat gründen. Die Religion war dabei zweitrangig. Es galt: Ohne Vaterland kein Glaube. Bis heute spielt Religion für die Identitätskonstrukte der Albaner eine untergeordnete Rolle. Der Bektaschismus wurde als nationaler Kitt benutzt. Der Dichter Naim Frasheri setzte in seinem Epos über die Schlacht von Kerbela (Querbelaja) den Kampf der Schiiten gegen die Sunniten mit dem Kampf der Albaner gegen die Osmanen (auch Sunniten) gleich. "Abaz Aliu hat Tomorr eingenommen, er ist gekommen, um mit uns zu leben, Albanien wurde nicht länger nieder geschlagen, weil Gott gekommen ist, um es zu lieben", schrieb Frasheri 1898.
Abaz Aliu wurde damit nicht nur als Freiheitskämpfer gegen die Osmanen im albanischen Nationalnarrativ verankert sondern auch als Mitbegründer der albanischen Nation. "Es ist eine große Ehre, dass Abaz Aliu hierher nach Albanien gekommen ist, er hätte ja auch in jedes andere Land gehen können", hatte der verstorbene Dede Baba erklärt. Abaz Aliu machte Albanien zum auserwählten Land. Und auch für den jungen Bektaschi Ilir H. ist der Flaggenträger vom Euphrat ein Vorreiter geblieben. "Wir Albaner haben eigentlich drei Helden", sagt Ilir und lehnt sich in seinen grünen Plastiksessel. "Mutter Theresa, Abaz Aliu und John Belushi." (Adelheid Wölfl, DER STANDARD; Printausgabe, 6.12.2011)